frau Holle
Verfasst: 06 Nov 2012, 10:12
Hi FF!
Da du so hartnäckig forderst, bekommst du nun, was du verlangst. Selbst schuld:
FRAU HOLLE - oder Das Reich der Mütter
Einleitung
Dies ist eine wahre Geschichte - oder ein Märchen, wie man will. Denn welche Geschichten könnten wohl wahrer sein, als Märchen? Warum bloss im allgemeinen Sprachgebrauch nicht ganz ehrlich gemeinte Flunkereien oft als Märchen bezeichnet werden? Ich weiss es nicht. Ich weiss nur: Es gibt so viele Wahrheiten, wie es Menschen auf der Erde gibt, denn jeder von ihnen hat seine eigene. Zu den liebsten Beschäftigungen der Menschen gehört es, einander ihre Wahrheiten gegenseitig um die Ohren zu hauen, dass es kracht. Überzeugen nennen sie das. Dabei kann man grob gesagt, drei Gruppen unterscheiden: die Einen missionieren, sie verbreiten die Wahrheit ihres Gottes. Die Anderen dienen auch einer Religion, die heisst Wissenschaft. Die Dritten aber führen Kriege, weil sie alle Anderen von einer Wahrheit überzeugen wollen, die Friede heisst. Ihr könnt euch aussuchen, welche davon die Schlimmste ist.
Dies soll aber keine Abhandlung über die Wahrheit werden, dafür sind andere zuständig, sondern ein Märchen. Also hört:
1. KAPITEL
Auf meinen Wegen durch das Land der Seele traf ich jüngst eine alte Bekannte. Ihr kennt sie unter verschiedenen Namen: Perchta, Perahta, Holda, Holde oder Holle. Sie ist übrigens für den Schnee zuständig und lässt Euch ausrichten, dass sie Eure Beschwerden über die letzten, schneearmen Winter wohl erhalten hat. Sie leide aber etwas unter Personalmangel, weil nur mehr so wenig Mädchen das ehrbare Handwerk des Spinnens erlernen wollten. Obwohl neulich eine Nachwuchskraft auf anderem Wege als dem altbekannten zu ihr gelangt sei. Wie, das hat sie mir ausführlich erzählt.
Am Rande einer grossen Stadt, welche, ist nicht so wichtig, da die Städte einander immer mehr und mehr gleichen, zumindest die der reichen Länder, lebt eine Familie. Vater, Mutter, zwei Kinder. Die typische Durchschnittsfamilie also. Obwohl, ganz so durchschnittlich ist sie nicht. Es handelt sich nämlich um eine noch "unzerbrochene" Familie, das heisst, der Vater ist der richtige Vater beider Kinder, keine Trennung, keine Scheidung, keine ernsthaften Krisen, jedenfalls bis ihnen das zugestossen ist, wovon dieses Märchen erzählt. Das ist selten geworden heutzutage und sogar ein wenig verdächtig. Früher nämlich, in der Entstehungszeit der meisten Märchen, da zerbrachen Familien zwar auch häufig, doch das hatte andere Gründe. Habt Ihr Euch schon einmal gefragt, warum in so vielen Märchen Stiefmütter vorkommen? Ja? Hier ist meine Antwort, eine unter mehreren möglichen, Ihr wisst schon, die Geschichte mit den vielen Wahrheiten! Also, die Sache ist die, dass die Kunst der Geburtshilfe damals sehr im Argen lag. Die Weisen Frauen waren, wenn sie nicht verbrannt worden waren, doch sehr in Misskredit geraten, alles Weibliche galt sowieso als äusserst verdächtig und minderwertig. Also waren die armen Gebärenden auf die Kunst der Herren Ärzte angewiesen. Die waren in Geburtshilfe wesentlich weniger gut unterrichtet als ihre diskreditierten Vorgängerinnen. Ausserdem verrichteten sie ihr Handwerk unter Decken und anderen Sichtbehinderungen, der Ehrbarkeit wegen, versteht sich. Diese Zustände führten dazu, dass es sehr viele Witwer in jüngeren Jahren gab. Was also tut nun so ein Mann, der noch kräftig im Saft steht, vielleicht noch mit ein oder mehreren unversorgten Kindern? Er begibt sich erneut auf Brautschau und zeugt in weiterer Folge mit der neuen Frau wiederum Nachwuchs. Schon ist der Krisenherd angefacht. Man stelle sich vor, die Zweitfrau empfindet sich als zweite Wahl und versucht nun mit allen Mitteln Nummer Eins zu werden, sie und ihr Nachwuchs natürlich. Ein Nährboden für alle Arten von Aschenputteln, Schneewittchen, Goldmarien, und was an armen, degradierten Geschöpfen noch unsere Märchenbücher bevölkert.
Besagte Familie also, die unserer Geschichte, lebte und lebt auch heute noch, in einem Häuschen mit ordentlich gepflegtem Garten und Garage in einem der besseren Bezirke, aber nicht in einem der besten, wohlgemerkt. Sie gehörten der Mittelschicht an, und das Wort "mittel" passte auf alles, was sie betraf. Der Vater war im mittleren Management seiner Firma tätig, er verdiente mittelmässig, das Haus war mittelgross, ebenso er selbst und seine Frau, die Mutter seiner mittelmässig begabten Kinder. Das heisst, so mittelmässig begabt waren sie eigentlich nicht, nur lagen ihre eigentlichen Begabungen nicht dort, wo ihre Eltern sie suchten. Das traf vor allem auf das jüngere der beiden Mädchen zu, Maria mit Namen, Mariechen gerufen. Die Ältere, Anna, entsprach schon eher den Erwartungen ihrer Eltern, oder genauer gesagt, denen ihrer Mutter. Der Vater der Beiden stellte nicht so spezielle Anforderungen an seine Töchter. Sie sollten in der Schule gut mitkommen, sich in den Rahmen der Familie und deren Umfeld gut einfügen, gesund sein, keine Drogen nehmen und einen akzeptablen Freundeskreis haben. Was zusammengefasst also bedeutet, sie sollten keine Schwierigkeiten machen, damit er sich ohne Störung seiner Karriere widmen konnte, die sich in einer diffizilen Phase ihrer Entwicklung befand und seiner allergrössten Aufmerksamkeit bedurfte. Er war, wie gesagt, in mittleren Jahren und noch nicht an die Spitze des Unternehmens gelangt. Dort wollte er aber sein, wenn er die Jahre der Reife erreicht hatte. Dann, so hoffte er, würde auch sein Leben und das seiner Lieben aus der Mittelmässigkeit hinauswachsen in den strahlenden Glanz, der den Gipfel der Gesellschaft bestrahlt. Seine Frau, Helene, war damals ebenfalls gerade mit einem heiklen Abschnitt ihres Lebens befasst. In ihrer Jugend war sie eine begabte und auch erfolgreiche Schwimmerin gewesen. Zahlreiche Pokale in allen Grössen, überall im Haus verteilt, berichteten von diesem Abschnitt ihrer persönlichen Biographie und sollten besonders ihren Mann immer daran erinnern, was sie für ihn aufgegeben hatte. Als sie nämlich Gregor geheiratet hatte und bald darauf von ihrer ältesten Tochter entbunden worden war, stagnierte ihre Karriere, um nach der Geburt von Mariechen ganz zum Erliegen zu kommen. Helene widmete sich fortan ihrem Mann und den beiden Töchtern, freiwillig, wie sie jedem bereitwillig versicherte, der sie daraufhin ansprach oder auch nicht. Im Innersten hoffte sie, dass Gregor sie wegen ihres grossen Opfers, das sie am Altar ihrer Liebe dargebracht hatte, auf Händen tragen würde. Anfangs tat er das auch. Aber wer erträgt schon auf Dauer den Gedanken, dem Anderen für etwas ewige Dankbarkeit zu schulden, das er so dezidiert eigentlich nie verlangt hatte. Immerhin musste sie ja von Anfang an gewusst haben, was sie erwartete, wenn sie heiratete. Sie hätte sich ja auch anders entscheiden können, na eben! Nun war sie auch schon über die Jahre der prallen Jugendlichkeit hinaus und musste sich eingestehen, dass sie selbst sich wohl kaum mehr auf irgendeinem Gebiet profilieren würde. So ereilte die zwei kleinen Mädchen ein Geschick, das sie mit so manchen Anderen teilten. Sie sollten das erfüllen, was ihrer Mutter versagt geblieben war. Helene widmete sich mit Hingabe der sportlichen Karriere ihrer Töchter. Sie fuhr Anna, die Ältere, bereitwillig in frühester Morgenstunde zum Training, das noch vor dem Unterrichtsbeginn angesetzt war und am Nachmittag wieder. Später dann, als Anna das Sportgymnasium besuchte, hätte der Tagesablauf Helenes etwas weniger anstrengend sein können, denn das Training war in den Unterricht integriert. Dann aber begann der gleiche Zirkus mit Mariechen von vorne. Ja, Helene hatte ihren Lebensinhalt gefunden, sie war unentbehrlich und sehr im Stress. Denn wer auf sich hielt und dazugehören wollte (wozu auch immer), hatte einfach im Stress zu sein. Sie erfüllte ihr Lebenswerk. Und dann noch der Haushalt und der Mann, der jede Aufforderung von Seiten Helenes, im Haushalt mitzuhelfen, indigniert ablehnte. Schliesslich ermöglichte er mit seinem schwierigen Job doch dies Alles, da könne er schon erwarten, dass das honoriert würde, na also! Mariechen machte ihr ausserdem Sorgen. Sie schien nicht so richtig zu würdigen, was ihre Mutter da auf sich nahm, um ihre sportliche Karriere zu fördern. Draussen spielen, auf Bäume klettern, halbe Tage einfach verträumen, das brachte einen doch nicht weiter im Leben, und weiterkommen musste man doch einfach, war das Wichtigste! Sie musste schliesslich einsehen, dass ihre Mutter wirklich nur das Beste für sie wollte!
Irgendwann schien Mariechen das auch endlich begriffen zu haben. Sie absolvierte widerspruchslos ihr Trainingspensum und gelangte bald in das Spitzenfeld ihrer Altersgruppe. Sie begann, mit ihrer grossen Schwester zu konkurrieren, die ihr als ständiges Vorbild vorgehalten wurde, wie dem Esel die Karotte. Naturgemäss war diese ihr immer um einen Schritt voraus. Durchschaute Mariechen nicht das Hase und Igel -Spiel ihrer ehrgeizigen Mutter? War sie es niemals leid, oder nahm sie die einzige Möglichkeit wahr, deren Anerkennung zu erringen? Wir wissen es nicht. Und Gregor schien es nicht zu interessieren. Sie funktionierte und bereitete keine Schwierigkeiten, also musste doch alles in Ordnung mit ihr sein, oder nicht? Niemand schien es zu bemerken, dass ihr kleines Gesicht freudlos und verbissen wurde. Früher einmal hatte sie es geliebt, fröhlich singend an einer ihrer bunt - phantasievollen Zeichnungen zu malen oder auf der Schaukel vor dem Haus kühne Höhenflüge zu erleben, bis in den Himmel, wie sie sagte. Sie hatte viel gelacht, geplaudert und sehr viel gelesen damals, in den längst verwehten Tagen ihrer frühen Kindheit, damals, als Training und Leistung noch nicht die Götter ihres kindlichen Reiches gewesen waren.
Endlich war auch sie dann in den Olymp ihrer grossen Schwester aufgenommen worden, und nun besuchte sie bereits die fünfte Klasse des Sportgymnasiums. Es bedarf keiner weiteren Erwähnung, dass sie dort als eine der ganz grossen Hoffnungen des Schwimmsportes galt. Ihre bevorzugte Sparte war der Delphinstil.
So wie jeden Morgen um halb sechs krähte ihr alter Kinderwecker, ein elektronischer Hahn. Sein blechernes und durchdringendes Organ war im ganzen Haus zu hören und bedeutete, bis spätestens halb sieben mit Morgentoilette und Frühstück fertig zu sein, Frühstück nach genau ausgearbeitetem Ernährungsplan für aufbauendes Training. Papa biss genussvoll in eine frische Semmel mit Honig, die beiden hoffnungsvollen Töchter kauten etwas weniger genussvoll an ihrem eiweissangereicherten Müsli, bissen in Vollkornbrot mit Kräutertopfen, gesund, jawohl, vorschriftsmässig, jawohl! Mama teilte schon aus Prinzip die Diät ihrer Töchter, sie wollte sie nicht demoralisieren, und ausserdem, die schlanke Linie! Danach, Küsschen, Küsschen für den Papi, Trainings - und Schulutensilien geschnappt - oh Gott, heute war Matheschularbeit - und bei der Seitner (so hiess die Matheprofessorin) konnte man nicht schummeln! Vorher stand aber noch Morgentraining auf dem Programm, täglich von sieben bis halb neun. "Mariechen, wo bleibst du denn, kannst du nicht am Abend deine Sachen fertig packen! Der Anna muss ich das nie sagen, warum kannst du dir kein Beispiel an ihr nehmen!" Aus, fertig, diesen Tag hasste sie schon, bevor er richtig begonnen hatte. Nun konnte sie auch noch ihr Skriptum nicht finden, und heute stand doch ihr Deutschreferat auf dem Programm! Und um fünf die anstrengende Vorausscheidung für die Jugend - Europameisterschaften, uff! Manchmal hätte sich Mariechen gerne ausgeklinkt aus dem täglichen Programm. Oftmals träumte sie mit offenen Augen vor sich hin: ein lichter Wald, sie auf einem weissen Pferd, das sich mit einem Mal in die Lüfte erhebt, weit über die Wolken.... unter sich lassend die Schule, den Leistungsdruck, die hochgesteckten Erwartungen der Mutter....." Maria, komm doch mal an die Tafel und leite die Formel hier ab!" Die Stimme der Realität liess dann ihr weisses Pferd abstürzen wie einen Stein. Dann hörte sie zu allem Überfluss noch häufig: "Du solltest dir das einmal von deiner Schwester erklären lassen! Wenn du nur in Mathematik annähernd so gut wärst, wie beim Schwimmen!" Heiliger Strohsack, wäre nur dieser Tag schon vorbei!
Fortsetzung folgt.
Da du so hartnäckig forderst, bekommst du nun, was du verlangst. Selbst schuld:
FRAU HOLLE - oder Das Reich der Mütter
Einleitung
Dies ist eine wahre Geschichte - oder ein Märchen, wie man will. Denn welche Geschichten könnten wohl wahrer sein, als Märchen? Warum bloss im allgemeinen Sprachgebrauch nicht ganz ehrlich gemeinte Flunkereien oft als Märchen bezeichnet werden? Ich weiss es nicht. Ich weiss nur: Es gibt so viele Wahrheiten, wie es Menschen auf der Erde gibt, denn jeder von ihnen hat seine eigene. Zu den liebsten Beschäftigungen der Menschen gehört es, einander ihre Wahrheiten gegenseitig um die Ohren zu hauen, dass es kracht. Überzeugen nennen sie das. Dabei kann man grob gesagt, drei Gruppen unterscheiden: die Einen missionieren, sie verbreiten die Wahrheit ihres Gottes. Die Anderen dienen auch einer Religion, die heisst Wissenschaft. Die Dritten aber führen Kriege, weil sie alle Anderen von einer Wahrheit überzeugen wollen, die Friede heisst. Ihr könnt euch aussuchen, welche davon die Schlimmste ist.
Dies soll aber keine Abhandlung über die Wahrheit werden, dafür sind andere zuständig, sondern ein Märchen. Also hört:
1. KAPITEL
Auf meinen Wegen durch das Land der Seele traf ich jüngst eine alte Bekannte. Ihr kennt sie unter verschiedenen Namen: Perchta, Perahta, Holda, Holde oder Holle. Sie ist übrigens für den Schnee zuständig und lässt Euch ausrichten, dass sie Eure Beschwerden über die letzten, schneearmen Winter wohl erhalten hat. Sie leide aber etwas unter Personalmangel, weil nur mehr so wenig Mädchen das ehrbare Handwerk des Spinnens erlernen wollten. Obwohl neulich eine Nachwuchskraft auf anderem Wege als dem altbekannten zu ihr gelangt sei. Wie, das hat sie mir ausführlich erzählt.
Am Rande einer grossen Stadt, welche, ist nicht so wichtig, da die Städte einander immer mehr und mehr gleichen, zumindest die der reichen Länder, lebt eine Familie. Vater, Mutter, zwei Kinder. Die typische Durchschnittsfamilie also. Obwohl, ganz so durchschnittlich ist sie nicht. Es handelt sich nämlich um eine noch "unzerbrochene" Familie, das heisst, der Vater ist der richtige Vater beider Kinder, keine Trennung, keine Scheidung, keine ernsthaften Krisen, jedenfalls bis ihnen das zugestossen ist, wovon dieses Märchen erzählt. Das ist selten geworden heutzutage und sogar ein wenig verdächtig. Früher nämlich, in der Entstehungszeit der meisten Märchen, da zerbrachen Familien zwar auch häufig, doch das hatte andere Gründe. Habt Ihr Euch schon einmal gefragt, warum in so vielen Märchen Stiefmütter vorkommen? Ja? Hier ist meine Antwort, eine unter mehreren möglichen, Ihr wisst schon, die Geschichte mit den vielen Wahrheiten! Also, die Sache ist die, dass die Kunst der Geburtshilfe damals sehr im Argen lag. Die Weisen Frauen waren, wenn sie nicht verbrannt worden waren, doch sehr in Misskredit geraten, alles Weibliche galt sowieso als äusserst verdächtig und minderwertig. Also waren die armen Gebärenden auf die Kunst der Herren Ärzte angewiesen. Die waren in Geburtshilfe wesentlich weniger gut unterrichtet als ihre diskreditierten Vorgängerinnen. Ausserdem verrichteten sie ihr Handwerk unter Decken und anderen Sichtbehinderungen, der Ehrbarkeit wegen, versteht sich. Diese Zustände führten dazu, dass es sehr viele Witwer in jüngeren Jahren gab. Was also tut nun so ein Mann, der noch kräftig im Saft steht, vielleicht noch mit ein oder mehreren unversorgten Kindern? Er begibt sich erneut auf Brautschau und zeugt in weiterer Folge mit der neuen Frau wiederum Nachwuchs. Schon ist der Krisenherd angefacht. Man stelle sich vor, die Zweitfrau empfindet sich als zweite Wahl und versucht nun mit allen Mitteln Nummer Eins zu werden, sie und ihr Nachwuchs natürlich. Ein Nährboden für alle Arten von Aschenputteln, Schneewittchen, Goldmarien, und was an armen, degradierten Geschöpfen noch unsere Märchenbücher bevölkert.
Besagte Familie also, die unserer Geschichte, lebte und lebt auch heute noch, in einem Häuschen mit ordentlich gepflegtem Garten und Garage in einem der besseren Bezirke, aber nicht in einem der besten, wohlgemerkt. Sie gehörten der Mittelschicht an, und das Wort "mittel" passte auf alles, was sie betraf. Der Vater war im mittleren Management seiner Firma tätig, er verdiente mittelmässig, das Haus war mittelgross, ebenso er selbst und seine Frau, die Mutter seiner mittelmässig begabten Kinder. Das heisst, so mittelmässig begabt waren sie eigentlich nicht, nur lagen ihre eigentlichen Begabungen nicht dort, wo ihre Eltern sie suchten. Das traf vor allem auf das jüngere der beiden Mädchen zu, Maria mit Namen, Mariechen gerufen. Die Ältere, Anna, entsprach schon eher den Erwartungen ihrer Eltern, oder genauer gesagt, denen ihrer Mutter. Der Vater der Beiden stellte nicht so spezielle Anforderungen an seine Töchter. Sie sollten in der Schule gut mitkommen, sich in den Rahmen der Familie und deren Umfeld gut einfügen, gesund sein, keine Drogen nehmen und einen akzeptablen Freundeskreis haben. Was zusammengefasst also bedeutet, sie sollten keine Schwierigkeiten machen, damit er sich ohne Störung seiner Karriere widmen konnte, die sich in einer diffizilen Phase ihrer Entwicklung befand und seiner allergrössten Aufmerksamkeit bedurfte. Er war, wie gesagt, in mittleren Jahren und noch nicht an die Spitze des Unternehmens gelangt. Dort wollte er aber sein, wenn er die Jahre der Reife erreicht hatte. Dann, so hoffte er, würde auch sein Leben und das seiner Lieben aus der Mittelmässigkeit hinauswachsen in den strahlenden Glanz, der den Gipfel der Gesellschaft bestrahlt. Seine Frau, Helene, war damals ebenfalls gerade mit einem heiklen Abschnitt ihres Lebens befasst. In ihrer Jugend war sie eine begabte und auch erfolgreiche Schwimmerin gewesen. Zahlreiche Pokale in allen Grössen, überall im Haus verteilt, berichteten von diesem Abschnitt ihrer persönlichen Biographie und sollten besonders ihren Mann immer daran erinnern, was sie für ihn aufgegeben hatte. Als sie nämlich Gregor geheiratet hatte und bald darauf von ihrer ältesten Tochter entbunden worden war, stagnierte ihre Karriere, um nach der Geburt von Mariechen ganz zum Erliegen zu kommen. Helene widmete sich fortan ihrem Mann und den beiden Töchtern, freiwillig, wie sie jedem bereitwillig versicherte, der sie daraufhin ansprach oder auch nicht. Im Innersten hoffte sie, dass Gregor sie wegen ihres grossen Opfers, das sie am Altar ihrer Liebe dargebracht hatte, auf Händen tragen würde. Anfangs tat er das auch. Aber wer erträgt schon auf Dauer den Gedanken, dem Anderen für etwas ewige Dankbarkeit zu schulden, das er so dezidiert eigentlich nie verlangt hatte. Immerhin musste sie ja von Anfang an gewusst haben, was sie erwartete, wenn sie heiratete. Sie hätte sich ja auch anders entscheiden können, na eben! Nun war sie auch schon über die Jahre der prallen Jugendlichkeit hinaus und musste sich eingestehen, dass sie selbst sich wohl kaum mehr auf irgendeinem Gebiet profilieren würde. So ereilte die zwei kleinen Mädchen ein Geschick, das sie mit so manchen Anderen teilten. Sie sollten das erfüllen, was ihrer Mutter versagt geblieben war. Helene widmete sich mit Hingabe der sportlichen Karriere ihrer Töchter. Sie fuhr Anna, die Ältere, bereitwillig in frühester Morgenstunde zum Training, das noch vor dem Unterrichtsbeginn angesetzt war und am Nachmittag wieder. Später dann, als Anna das Sportgymnasium besuchte, hätte der Tagesablauf Helenes etwas weniger anstrengend sein können, denn das Training war in den Unterricht integriert. Dann aber begann der gleiche Zirkus mit Mariechen von vorne. Ja, Helene hatte ihren Lebensinhalt gefunden, sie war unentbehrlich und sehr im Stress. Denn wer auf sich hielt und dazugehören wollte (wozu auch immer), hatte einfach im Stress zu sein. Sie erfüllte ihr Lebenswerk. Und dann noch der Haushalt und der Mann, der jede Aufforderung von Seiten Helenes, im Haushalt mitzuhelfen, indigniert ablehnte. Schliesslich ermöglichte er mit seinem schwierigen Job doch dies Alles, da könne er schon erwarten, dass das honoriert würde, na also! Mariechen machte ihr ausserdem Sorgen. Sie schien nicht so richtig zu würdigen, was ihre Mutter da auf sich nahm, um ihre sportliche Karriere zu fördern. Draussen spielen, auf Bäume klettern, halbe Tage einfach verträumen, das brachte einen doch nicht weiter im Leben, und weiterkommen musste man doch einfach, war das Wichtigste! Sie musste schliesslich einsehen, dass ihre Mutter wirklich nur das Beste für sie wollte!
Irgendwann schien Mariechen das auch endlich begriffen zu haben. Sie absolvierte widerspruchslos ihr Trainingspensum und gelangte bald in das Spitzenfeld ihrer Altersgruppe. Sie begann, mit ihrer grossen Schwester zu konkurrieren, die ihr als ständiges Vorbild vorgehalten wurde, wie dem Esel die Karotte. Naturgemäss war diese ihr immer um einen Schritt voraus. Durchschaute Mariechen nicht das Hase und Igel -Spiel ihrer ehrgeizigen Mutter? War sie es niemals leid, oder nahm sie die einzige Möglichkeit wahr, deren Anerkennung zu erringen? Wir wissen es nicht. Und Gregor schien es nicht zu interessieren. Sie funktionierte und bereitete keine Schwierigkeiten, also musste doch alles in Ordnung mit ihr sein, oder nicht? Niemand schien es zu bemerken, dass ihr kleines Gesicht freudlos und verbissen wurde. Früher einmal hatte sie es geliebt, fröhlich singend an einer ihrer bunt - phantasievollen Zeichnungen zu malen oder auf der Schaukel vor dem Haus kühne Höhenflüge zu erleben, bis in den Himmel, wie sie sagte. Sie hatte viel gelacht, geplaudert und sehr viel gelesen damals, in den längst verwehten Tagen ihrer frühen Kindheit, damals, als Training und Leistung noch nicht die Götter ihres kindlichen Reiches gewesen waren.
Endlich war auch sie dann in den Olymp ihrer grossen Schwester aufgenommen worden, und nun besuchte sie bereits die fünfte Klasse des Sportgymnasiums. Es bedarf keiner weiteren Erwähnung, dass sie dort als eine der ganz grossen Hoffnungen des Schwimmsportes galt. Ihre bevorzugte Sparte war der Delphinstil.
So wie jeden Morgen um halb sechs krähte ihr alter Kinderwecker, ein elektronischer Hahn. Sein blechernes und durchdringendes Organ war im ganzen Haus zu hören und bedeutete, bis spätestens halb sieben mit Morgentoilette und Frühstück fertig zu sein, Frühstück nach genau ausgearbeitetem Ernährungsplan für aufbauendes Training. Papa biss genussvoll in eine frische Semmel mit Honig, die beiden hoffnungsvollen Töchter kauten etwas weniger genussvoll an ihrem eiweissangereicherten Müsli, bissen in Vollkornbrot mit Kräutertopfen, gesund, jawohl, vorschriftsmässig, jawohl! Mama teilte schon aus Prinzip die Diät ihrer Töchter, sie wollte sie nicht demoralisieren, und ausserdem, die schlanke Linie! Danach, Küsschen, Küsschen für den Papi, Trainings - und Schulutensilien geschnappt - oh Gott, heute war Matheschularbeit - und bei der Seitner (so hiess die Matheprofessorin) konnte man nicht schummeln! Vorher stand aber noch Morgentraining auf dem Programm, täglich von sieben bis halb neun. "Mariechen, wo bleibst du denn, kannst du nicht am Abend deine Sachen fertig packen! Der Anna muss ich das nie sagen, warum kannst du dir kein Beispiel an ihr nehmen!" Aus, fertig, diesen Tag hasste sie schon, bevor er richtig begonnen hatte. Nun konnte sie auch noch ihr Skriptum nicht finden, und heute stand doch ihr Deutschreferat auf dem Programm! Und um fünf die anstrengende Vorausscheidung für die Jugend - Europameisterschaften, uff! Manchmal hätte sich Mariechen gerne ausgeklinkt aus dem täglichen Programm. Oftmals träumte sie mit offenen Augen vor sich hin: ein lichter Wald, sie auf einem weissen Pferd, das sich mit einem Mal in die Lüfte erhebt, weit über die Wolken.... unter sich lassend die Schule, den Leistungsdruck, die hochgesteckten Erwartungen der Mutter....." Maria, komm doch mal an die Tafel und leite die Formel hier ab!" Die Stimme der Realität liess dann ihr weisses Pferd abstürzen wie einen Stein. Dann hörte sie zu allem Überfluss noch häufig: "Du solltest dir das einmal von deiner Schwester erklären lassen! Wenn du nur in Mathematik annähernd so gut wärst, wie beim Schwimmen!" Heiliger Strohsack, wäre nur dieser Tag schon vorbei!
Fortsetzung folgt.