Re: Das geschriebene Wort

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Im nächsten Moment überschlugen sich ihre Gedanken. Sie erlebte diese Geschichte mit all ihren Einzelheiten so intensiv, als hätte sie sie selbst erlebt. Ja, Elvira konnte den goldenen Palast vor ihrem inneren Auge sehen, sie roch aber auch die merkwürdige Geruchlosigkeit des Ortes und fühlte die unendliche Freudlosigkeit des Geschöpfes mit den goldenen Haaren. Und Elvira bemerkte noch weitere Sinneseindrücke, die sie aber nicht zuordnen konnte. Sie wusste auch nicht, ob sie sich mit dem jungen Bauernburschen über sein Geschick, das Glück für sich gefunden zu haben freuen, oder über das Geschöpf ohne Lächeln weinen solle. Alles Denken half Elvira nicht weiter. Sie nahm allen Mut zusammen und wagte selbst einen Blick in ihren Lochstein.

Re: Das geschriebene Wort

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"Huch!" Was war denn das? Ein Auge? Elvira warf zitternd den lochstein von sich. Hatte ihr durch den stein tatsächlich ein auge entgegen geblickt? Sie musste sich täuschen! Ihre sinne hatten ihr sicher einen streich gespielt, ja, so musste es sein. Sie wurde wohl schon ein wenig alt und wunderlich. Es musste die einsamkeit sein. Es tat nicht gut, so viel allein zu sein.
Dennoch, da lag der vermaledeite stein, als wartete er darauf, aufgehoben und auf seine seltsamen eigenschaften untersucht zu werden. Sollte sie ...... wollte sie?...... Sie musste! Etwas, wie eine immaterielle schnur zog der verunsicherten frau mit aller gewalt. Erneut hob sie den stein auf und blickte noch einmal durch das loch........
Wunder sind nicht die ausnahme von der regel, sondern die natürliche, wahre ordnung der dinge (Bashar).

Re: Das geschriebene Wort

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Elvira erschrak wieder. Sie erblickte im Stein ein Gesicht. Am liebsten würde sie den Stein wieder beiseite legen, aber die ängstliche Neugierde siegte. Elvira hielt den Lochstein mit zittrigen Händen vor ihr rechtes Auge und schaute tapfer hinein. "Wie kann das sein?" und "Wem gehört dieses Gesicht?", fragte sich Elvira. Das Gesicht im Stein veränderte sich. Es begann freundlich zu lächeln. Elvira traute ihren Augen kaum, aber das lächelnde Gesicht schenkte ihr Mut, weiter in den Stein zu blicken.

Re: Das geschriebene Wort

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Und dieses freundliche Auge wich etwas zurück, und sie folgte ihm, es wich weiter zurück, sie folgt ihm, und es lockte sie immer weiter, und auf einmal war sie hoch oben im Weltall und blickte auf die Erde hinunter.

Sonderbar, die Kontinente sahen ganz anders aus, als sie aussehen sollten. Von einem Bereich fühlte sie sich magisch angezogen, und sie zoomte diese Landschaft näher heran, Wüstenlandschaft, eine Kamel-Karawane, und ihr Bewusstsein verschmilzt mit dem Bewusstsein eines der Reiter. „Wenn wir nicht bald auf einen Brunnen stoßen, sind wir verloren!“ denkt der Reiter, denkt auch Elvira. Panik überkommt Elvira, die zuhause durch den Lochstein blickt. Doch dann gelingt es ihr, wieder die Beobachterposition einzunehmen und sich etwas von der Panik zu lösen, und plötzlich weiß sie, dass eine halbe Tagreise von hier Felsen sind, und in diesen Felsen gibt es eine kleine Quelle, die selbst bei jahrelanger Trockenzeit noch Wasser spendet, und der Reiter scheint ihren Gedanken aufzufangen, ja er scheint sogar vor seinem geistigen Auge diese Felsgruppe sehen zu können. Und zuversichtlich sagt der Reiter seinen Mitreisenden: „Ich weiß, wo wir eine Quelle finden werden. Unser Gott hat mir dieses Bildnis geschickt“, denn anders kann er sich diese plötzliche Inspiration nicht vorstellen, und seine Zuversicht überträgt sich auf die ganze Gruppe.

Re: Das geschriebene Wort

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Auch Elvira wurde von dieser Zuversicht ergriffen. Sie legte den Lochstein beiseite, um ihren Gedankengängen zu folgen. "Bin ich es, die die Kamelkarawane vor dem sicheren Verdurstungstod rettet?" Elvira konnte sich nicht vorstellen, wie das sein kann. Also griff sie beherzt den Lochstein wieder auf und blickte hinein. Elvira fühlte sich erneut in den Stein gezogen und knüpfte an die Szene der Wüstenlandschaft mitsamt Kamelkarawane wieder an. Was sie jetzt sah, verschlug ihr beinahe den Atem. Die gesamte Szenerie erinnerte sie an Altbekanntes.

Re: Das geschriebene Wort

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So entstand wohl der mythos des unsichtbaren gottes, der von weit her, aus dem himmel oder von fernen galaxien, das schicksal des wüstenplaneten lenkte. Man errichtete ihm altäre aus stein, opferte kamelmilch und weihrauch, versuchte, seinen willen zu erforschen und wohl auch zu erfüllen, auch wenn das nicht immer glückte. Dann war man ein sünder und musste noch mehr opfern als buße für die übertretung, und, um den unsichtbaren gott zu versöhnen. Steinerne tafeln tauchten plötzlich auf mit geboten, die dieser gott einem auserwählten propheten diktiert haben sollte. Eine priesterkaste etablierte sich und mit ihr auch dogmatismus, strenge und unduldsamkeit. Dieser strenge gott forderte aber noch mehr: die ungläubigen mussten zu diesem gott, zum einzig wahren und echten, bekehrt werden, wenn nötig mit feuer und schwert.

Das alles sah elvira durch das loch, und sie fand es nicht gut, gar nicht gut. Sie wusste, wohin so etwas führte. Also beschloss sie, die reise durch das loch anzutreten, um das wüstenvolk von seinen verirrungen abzuhalten.

Niemand, nicht einmal kommissar mühlauer konnte sich das verschwinden der älteren frau erklären, noch dazu aus einer von innen verschlossenen wohnung. Alle fenster waren unversehrt, nirgends die spur eines einbruchs. Äußerst seltsam.......
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Re: Das geschriebene Wort

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Amüsiert betrachtete Elvira die Szene, die sich in ihrer eigenen Wohnung abspielte. Sie konnte Komissar Mühlauers verdutzten Gesichtsausdruck erkennen, der mit seinem Team auf Spurensuche in Elviras Wohnzimmer begann. Elvira selbst saß für sich deutlich erkennbar in ihrem alten Ohrensessel - ein Andenken an Opa Huppert - dessen Bezug bereits ziemlich verschlissen war. Doch kein anderer konnte sie dort wahrnehmen. Elvira begab sich weiter in den magischen Bann des Lochsteins und roch plötzlich einen fremdartigen Geruch, sog heiße Luft in ihre Lungen ein, spürte die Sonne heiß auf ihrer Haut brennen und der Sand, der ihr durch den aufkommenden Wind in die Augen getrieben wurde, schmerzte. Elvira rieb sich die Augen. Nachdem sie ihren Sehsinn wieder unter Kontrolle zu haben schien, blinzelte sie in eine merkwürdig fremde Welt. Ihr wurde bewusst, sie befand sich auf dem Wüstenplaneten. Wie aus weiter Ferne hörte sie Komissar Mühlauer über sie sprechen, aber andere, fremdartige Geräusche erregten Elviras Aufmerksamkeit weit mehr.

Re: Das geschriebene Wort

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Es hörte sich an wie das klingen von kleinen glöckchen und im hintergrund liturgische gesänge. Was ging hier vor? Als die szene klarer zu werden begann, nahm sie sich selbst wahr, stehend auf einem felsvorsprung und unter sich eine menschenmenge, die erwartungsvoll zu ihr aufsah. Da gab es krüppel, gekleidet in irgend etwas, das putzlappen glich, dazwischen bettler und händler mit tabletts voller gebäck. Es war ein unbeschreibliches durcheinander. Dann ertönte eine stimme: "Die erlöserin ist gekommen, hört, was sie zu sagen hat!"
Die erlöserin? Welche erlöserin?
"Elvira, sprich zu uns", sagte die selbe stimme. Dann begann die menge auch schon zu skandieren: "Elvira, el - vir -ra, el - vir - ra!"
Das war doch nicht die möglichkeit, es musste ein traum sein. Und schuld war dieser seltsame stein, ganz sicher, so musste es sein!"
Elvira bemerkte, dass sie den stein immer noch in händen hielt. Sie holte aus und schleuderte ihn in richtung des kommisars. Als er in weitem bogen durch die luft flog, zog er eine glitzernde spur hinter sich her. Dann war er verschwunden.
Er fiel kommissar mühlauer vor die füße. Dieser bückte sich verwundert nach dem komischen ding, das sich, wie aus dem nichts, vor seinen füßen gleichsam materialisiert hatte......
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Re: Das geschriebene Wort

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"Huch, was ist das denn?", rief der Kommissar und hielt dabei Elviras Lochstein hoch, so dass ihn das gesamte Untersuchungsteam sehen konnte. "Das, mein lieber Herr Vorgesetzter, ist ein gewöhnlicher Kieselstein", erwiderte Kriminalbeamter Meier. Alle schauten den Kommissar mit einer Mischung aus Erstaunen und Verwunderung an, denn Mühlauer war kreidebleich im Gesicht. "Aber ... aber, der war doch gerade eben noch nicht da", stammelte er. Meier schüttelte den Kopf, wandte sich von Mühlauer ab und verdrehte an seine Kollegen gerichtet die Augen. Dem Kommissar allerdings nicht unbemerkt geblieben, wurde die verquere Situation um einen wie aus dem Nichts auftauchenden Stein bewusst, ließ ihn von Allen unbemerkt in seine Hosentasche gleiten und verlor gegenüber seinen Kollegen nie wieder ein Wort um diesen suspekten Kiesel. Zuhause, so nahm er sich vor, wolle er den Stein genauer untersuchen.
Elvira stand indes weiterhin wie angewurzelt auf dem Felsvorsprung und fühlte sich sehr unwohl in ihrer Haut. "Ich muss irgendetwas sagen", dachte sie bei sich, fand aber zunächst keine Worte.

Re: Das geschriebene Wort

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Dann erinnerte sie sich daran, warum sie eigentlich hierher gekommen war. Langsam, laut und deutlich sagte sie: "Ich bin von eurem gott hierher gesandt worden. Er will euch sagen, dass ihr niemanden in seinem namen verfolgen oder weh tun sollt. Jeder mensch kann gott so verehren, wie es ihm entspricht. Ihr sollt euch gegenseitig gutes tun."

Erstaunen zeichnete sich in den gesichtern der menschen ab. Es wurde totenstill. Dann erhob sich geschrei. "Sie ist eine falsche prophetin. Sie verhöhnt unseren gott. Steinigt sie!"

Jetzt war guter rat teuer. Den lochstein hatte elvira ja von sich geworfen. Wie sollte sie sich jetzt so schnell in sicherheit bringen? "Kommissar mühlauer!", rief sie in heller verzweiflung, "können sie mich hören?"

"Sie spricht mit ihren dämonen", murmelten die leute, "bringt euch in sicherheit, wer weiß, wie schrecklich die sind." Darauf hin zerstreute sich die menge. "Noch einmal glück gehabt!", stellte elvira erleichtert fest. "aber was nun?"

Zuhause, bei mühlauers, zweifelte eine völlig verstörte frau am geisteszustand ihres mannes. Hielt er doch wirklich einen stein an sein ohr und schien stimmen daraus zu hören. Und dann.... was dann geschah, ließ der armen frau die haare zu berg stehen. Ihr, sonst so völlig seriöser, verlässlicher, immer vernünftiger ehemann sprach zu einem stein!!!!!!......
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