14
von morgane
Kap. 4
Am nächsten Morgen, beim Frühstück, bot Anna sich an, den Nachmittag statt ihrer Mutter bei Maria zu verbringen. "Du musst dich auch ein wenig ausruhen, wer weiss, wie lange dieses Koma dauern wird," meinte sie "Das ist sehr lieb von dir, meine Grosse, später vielleicht, wenn es notwendig sein sollte." Sie strich ihrer Tochter zärtlich über die Wange. "Aber dies hier ist meine Angelegenheit, denn ich habe Maria dorthin geschickt, wo sie jetzt ist." "Aber Mutter, du konntest doch nicht wissen...!" "Still, Kind, es ist nun einmal so, ich weiss es." Den verwunderten Ausdruck in Annas Augen sah Helene nicht, denn sie war gerade dabei, sich eine Semmel mit Honig zu bestreichen. "Da, gönn' dir auch einmal eine, ich weiss doch, wie gerne du sie magst," forderte sie Anna auf. "Aber Mutter, mein Diätplan...!" Ihre verwunderte Miene wandelte sich in Unverständnis und Staunen. "Ja, ja, dein Diätplan, ich weiss schon! Mariechen musste auch immer auf ihr Lieblingsfrühstück verzichten und wozu? Jetzt liegt sie dort in ihrem blinkenden, sterilen Chromsarg und hat gar nichts davon!" Helenes Stimme war dabei immer lauter geworden. Die letzten Worte schrie sie mit wutverzerrtem Gesicht heraus, wobei sie mit der Faust auf den Tisch schlug, dass Geschirr und Besteck hüpften. In die Stille hinein, die darauf folgte, sagte sie, nun wieder mit ruhiger und gefasster Stimme: "Verzeiht, ihr Beiden, die Wut gilt nicht euch, nur mir, mir allein. Ich habe alles vermurkst, mein Leben und eures. Irgendwie ist es mir gelungen, das all die Jahre vor mir selbst geheimzuhalten. Das arme Mädel hat müssen fast sterben, oder vielleicht stirbt sie ja auch wirklich, wo liegt der Unterschied? Ich sehe keinen, ob sie jetzt dort aufgebahrt noch einige Jahre dahinvegetiert oder gleich stirbt...." "Nun geh' einmal nicht so hart mit dir ins Gericht," versuchte Gregor einzulenken, "schliesslich hast du es ja doch gut gemeint mit dem Sport und alldem!" "Ja, ja" Helene lachte bitter auf, "das Gegenteil von gut ist gut gemeint. Dabei bin ich mir nicht einmal sicher, ob es das überhaupt war. Ich glaube, in Wirklichkeit habe ich das alles nur für mich getan, für mein Ego, das hab ich gefüttert und gemästet. Was aber für die Kinder wirklich gut gewesen wäre,... na, ja, es war mir wohl nicht so ein grosses Anliegen."
Gregor war irgendwie unangenehm berührt von der plötzlichen Selbsterkenntnis seiner Frau. Ihre Problematik berührte sich mit seiner, und das hiess, dass er sein Leben wohl oder übel auch überdenken würde müssen, jedenfalls war ihrer aller gewohnter Alltag aus dem Gleis, sehr aus dem Gleis. Nichts würde so bleiben wie es einmal war, das wusste und befürchtete er. Er war nun einmal einer jener Menschen, die, wenn sie sich einmal im im gewohnten Einerlei häuslich eingerichtet hatten, Veränderungen mieden, auch wenn diese neue Lebenschancen verheissen mochten.
Helene hatte Marias Haarbürste und ihre Gesichtscreme mitgebracht, auch einen Rest des Maiglöckchenparfüms, dass sie vor vielen Jahren immer benutzt hatte. Heute bevorzugte sie dezentere Düfte. Mariechen pflegte ihr Näschen dann immer in Helenes Halsgrube zu stecken und ganz intensiv an der Haut ihrer Mutter zu schnüffeln. Sie hatte den Geruch so sehr geliebt! Helene hatte einmal gelesen, dass der Geruchssinn die am tiefsten verankerte Empfindung des Menschen sei. Vielleicht geschah das Wunder, und der vertraute Duft würde ihre Tochter an ihrem Ort im Irgendwo erreichen. Sie hatte beschlossen, nichts unversucht zu lassen. Vorsichtig begann sie, das honigblonde Haar Marias zu bürsten, dabei sang sie ein Lied, dessen Text ihr schon fast entfallen war: "Aber heidschi, bumbeidschi, schlaf langa, dei Muata die is ja ausganga...." Früher einmal hatte sie dieses Lied jeden Abend für ihre Töchter singen müssen, wenn sie sie zu Bett brachte.
Frau Holle versammelte die Kinderschar um sich und inspizierte sie genau. "Komm her, Maria, siehst du, einige von ihnen sind sehr schmutzig. Wir müssen sie gründlich säubern!" Sie gab Maria eine weiche Bürste und einen Lappen, dann hiess sie das Mädchen, den Kindern beim Auskleiden behilflich zu sein, worauf sie alle in den Teich steigen liess. Unzählige, kleine Häufchen aus bunten Kinderkleidern blieben am Ufer zurück. Erst jetzt fiel Maria auf, dass hässliche, grauschwarze Flecken die kleinen Körper verunzierten. Sie gab sich alle Mühe mit ihrer Beseitigung, rieb und rieb, bis die Haut der Kinder so rot wurde wie die Äpfel, die sie gerade eben geerntet hatten. Frau Holle selbst liess es sich nicht nehmen, persönlich Hand anzulegen. Es war ein hartes Stück Arbeit, und trotzdem war einigen Flecken nicht beizukommen. So viel sie auch wuschen und rieben, mindestens ein Grauschimmer blieb immer noch an der Haut vieler Kinder zurück. Ein kleiner Junge fiel Maria ganz besonders auf. Er weigerte sich nämlich, sich auszuziehen und begann auch noch zu weinen, als Maria ihm dabei helfen wollte. Als sie versuchte, ihn in die Arme zu nehmen und zu trösten, verkrampfte sich sein kleiner, schmächtigenr Körper, als könne er die Berührung nicht ertragen. So versuchte sie, ihn mitsamt seinen Kleidern zu säubern, so gut es eben ging. Endlich war die Prozedur beendet. Frau Holle rieb die Haut der Kleinen liebevoll mit einer duftenden Lotion ein. Dabei sang sie sanft und zärtlich ein Lied, dessen Melodie Maria so seltsam bekannt vorkam. Sie konnte sich aber nicht mehr genau der die Worte entsinnen, es war irgend etwas mit 'heidschi und schlafen' oder so. Da war auch der Duft dieser Lotion, süss irgendwie und lang vertraut. Woher nur? Jedenfalls hatte sie das Gefühl, sich an irgend etwas erinnern zu sollen, sie kam und kam aber nicht dahinter, woran. Etwas, ein schattenhaftes Bild, eine Szene ihres Lebens, wartete im Halbdunkel ihrer Vergangenheit, ohne sich ihr zu erkennen zu geben. Als alles vorüber war, liefen die Kinder zu den netten, kleinen Häuschen, die plötzlich aus dem Nichts erschienen waren. Sie sollten sich nun ausruhen. Das war etwas, worauf Frau Holle äussersten Wert legte, dass ihre kleinen Gäste genug assen und ruhten. Wie in einem Sanatorium, dachte Maria.
"Das sind schon ganz arme Geschöpfe, sie brauchen sehr viel Zartgefühl, weisst du," liess sich Frau Holle vernehmen. Sie räusperte sich, als wisse sie nicht genau, wie sie mit dem, was sie zu sagen hatte, beginnen sollte. "Du bist ja noch sehr jung,.... nun ja, es wird dir sicher nicht verborgen geblieben sein,... wie soll ich es sagen,.... nun, dass in der Welt der Menschen nicht alles so ist, wie es sein soll. Kinder bekommen oft nicht die Zuwendung, die sie brauchen. Manche von ihnen aber kriegen eine besondere Art von Zuwendung, eine, die sie am allerwenigsten brauchen können.... .Also, was soll die Herumrederei..... du bist ja auch kein kleines Kind mehr." Maria dämmerte es langsam. Sie las Zeitung und sah auch fern. Sie lebte ja schliesslich nicht hinter dem Mond. "Meinst du, das alles sind missbrauchte Kinder?" fragte sie entsetzt, "so viele!" Erleichtert seufzte Frau Holle: "Ja, du hast schnell begriffen, Gott sei Dank! Es war mir nämlich ein bisschen peinlich. Trotzdem muss ich es etwas genauer eingrenzen: dies hier waren nur die sexuell missbrauchten Kinder. Es gibt auch noch genug anderen Missbrauch, z.B. Kinder, die zum Soldatsein, Töten und Kämpfen gezwungen werden. Man tötet ihr Gemüt zuerst, indem man sie demütigt, sexuell missbraucht oder bei Folterungen zusehen lässt. Später werden sie selbst dazu gezwungen, die ärgsten Greueltaten an Nahestehenden zu begehen. Daraus führt dann in diesem Leben kein Weg mehr für sie zurück. Immer mehr solcher armer Seelenkrüppel steigen in letzter Zeit bei mir an Land. Dann gibt es die kleinen, dienstbaren Mädchen, Asiatinnen meist. Sie werden von ihren bettelarmen Familien in die grossen Städte verkauft, um dort reichen Touristen ihre Männlichkeit zu bestätigen, damit diese, zurückgekehrt in ihren eigenen armseligen Alltag, vor den anderen männlichen Zombies damit prahlen können. Dann wären da noch die Strassenkinder, überall in den grossen Stadtwüsten zu finden, Abfall und Ausschuss vom ersten Atemzug an, den sie der schmutzigen Luft um sie herum abringen. Damit aber noch nicht genug. Da sind noch die Kinder, die zu Sklavenarbeit gezwungen und ausgebeutet werden, und die Kinder, deren Lebensraum durch ständige Kämpfe, Bürger-und sonstige Kriege verwüstet sind. Die meisten von ihnen kommen zu mir, weil sie ganz einfach verhungern, oder durch den ständigen Hunger so geschwächt sind, dass sie jeder Krankheit erliegen. Ich sage dir, da gibt es Greuel in allen Abstufungen. Ich kann dir gar nicht alles aufzählen. Man glaubt es ja gar nicht, was Kindern alles angetan wird, bei euch da oben! Zuletzt sind da noch die Kinder, die den Lebenstraum ihrer Eltern erfüllen müssen, so wie du. Erschrocken wandte Marie sich der alten Frau zu. "Du meinst also, dass ich auch missbraucht worden bin?" "Ja," antwortete diese, "in gewisser Weise schon, wenn du auch nicht so tief verwundet worden bist, wie diese Kleinen." Sie deutete in Richtung der Kinder, die Maria gerade gewaschen hatte. "Sind sie alle an ihrem Missbrauch gestorben, weil sie hierher zu dir gekommen sind?" "Manche schon, das sind die grausamsten und unappetitlichsten Fälle, darüber kann nicht einmal ich in angemessener Weise sprechen. Manche aber haben ihre Verletzung ihr Leben lang mitgeschleppt und sich niemandem anvertrauen können. Sie sind nach ihrem Tod hierher gekommen, um ihr Kindheits - Ich in meineHände zu legen. In einigen ist auch nur ein Teil ihrer selbst gestorben, ein ganz wichtiger Teil, der nämlich, der fühlt und liebt und auch Liebe empfangen kann. Sie haben ihn zu mir gesandt, während sie da 'oben'," sie deutete mit einer unbestimmten Geste in die Luft, "recht und schlecht weiter existieren, so wie du übrigens auch." "Ich bin gar nicht richtig tot, meinst du das? Von mir soll auch nur ein Teil hier sein? Wieso habe ich dann einen Körper, kann fühlen, hören und das alles?" "Das ist eben so, das wirst du irgendwann verstehen. Aber höre, das ist nämlich ganz wichtig, und du musst dir das gut merken!
Diese Kinder nun, sie schämen sich und fühlen sich beschmutzt und schuldig. Nicht genug damit, dass ihnen diese Abscheulichkeiten angetan worden sind, nein, die armen Geschöpfe glauben auch noch, selbst irgend eine Art Schuld daran zu tragen! Stell dir nur diesen schreienden Wahnsinn vor! Deshalb auch die ganze Waschprozedur. In Wirklichkeit kann der Leib, mit dem sie sich hier aufhalten, natürlich niemals beschmutzt werden. Aber die Gedanken formen die Wirklichkeit, immer und in jedem Fall, deshalb die schmutzigen Flecken auf den kleinen, armen Körpern." Eindringlich sah Frau Holle Maria in die Augen, wie, um sich zu versichern, dass diese auch alles genau verstanden hatte. "Ich glaube, ich verstehe", sagte Maria versonnen, "wir helfen damit ihrer Vorstellung von sich selbst ein wenig auf die Beine, nicht wahr?" "Kluges Mädchen!" Der zufriedene Ton in Holles Stimme war nicht zu überhören.
Die Zeit verging. Es ist mir bewusst, dass ich damit einen Begriff verwende, der dort keine Bedeutung hat, oder jedenfalls eine andere als hier, aber, sosehr ich auch in meinem Wortschatz krame, ich finde keinen anderen. Also, 'die Zeit verging' ist ein Synonym für: Maria hatte das Gefühl, schon unendlich lange in Frau Holles Reich zu sein. Seltsam war hier auch, dass es keinerlei Jahreszeiten zu geben schien. Auch die Sonne war niemals zu sehen gewesen, obwohl ein helles, warmes Licht die ewig sommerliche Landschaft erhellte. Die Tage Marias waren erfüllt von der Pflege der vielen Kinder, und täglich kamen neue. Sie stiegen aus dem kleinen Teich an Land und wurden meistens von 'ihrer' Mutter empfangen. Viele aber gingen später anderswo hin, an einen neuen Ort der Andersweltgeographie, der ihnen nunmehr besser entsprach, wenn sich das Loch in ihrer Brust geschlossen hatte und die dunklen Flecken ihrer Seele endlich abgewaschen waren. Ihre Gestalt veränderte sich dann zu dem, was sie im Reich der Mütter geworden waren, zum Erwachsenen. Das waren die Einen. Die Anderen entschlossen sich, es wieder mit dem irdischen Leben zu versuchen. Frau Holle hatte ihre Aufgabe gut an ihnen erfüllt und leistete ihnen nun Starthilfe, indem sie sie in den Teich hineinführte, aus dem sie sie einmal, verletzt und bedürftig, geholt hatte. Manche brauchten freilich einen kleinen Schubs. Das waren die Zaghafteren. Aber alle wussten, am anderen Ende würde wieder eine Mutter sie empfangen, vielleicht nicht so perfekt wie die, aus deren Reich sie gerade kamen, aber mit den besten Vorsätzen. Die Kinder, die gerade hier waren, spielten gerne eines ihrer Lieblingsspiele. Es hiess Schnee Machen und ging so: immer zwei und zwei fassten eine der grossen und dicken Tuchenten, von denen Frau Holle anscheinend unzählige besass und schüttelten sie, dass die Federn nur so flogen. Leider durfte man dieses Spiel nur spielen, wenn auf der Erde Winter zu sein hatte. Wenn man Kinder kennt, weiss man, dass es geradezu als ein Zeichen von seelischer Gesundheit angesehen werden kann, dass sie die Vorschriften der Erwachsenen manchmal umgehen. Daher schmunzelte Frau Holle nur gütig, wenn sie bemerkte, dass die Betten auch zwischendurch manchmal ein wenig geschüttelt wurden und ein paar unvorschriftsmässige Federn flogen. Also bitte, wundert Euch nicht zu sehr über zeitweise Wetterkapriolen! Ihr könnt Euch dann damit trösten, dass wieder ein paar von den kleinen Schützlingen Frau Holles ihrer Gesundung entgegengehen.
Im Garten, gleich beim Häuschen Frau Holles, stand ein grosser, gemauerter Backofen. Es gehörte zu Marias täglichen Pflichten, ihn tüchtig zu heizen und die Brote, die Holle jeden Tag aufs Neue bereitete, einzuschieben. Es war nicht leicht und bedurfte schon einigen Geschickes, die Laibe auch wieder im richtigen Augenblick herauszuholen. Denn wenn sie verbrannten und ungeniessbar wurden, dann gab es an diesem Tag kein Brot für Frau Holles kleine Gäste. Was das für diejenigen unter ihnen hiess, die in ihrem kurzen Leben so viel Hunger hatten leiden müssen, kann sich jeder an fünf Fingern abzählen! War das Brot aber gut gelungen, dann nährte es, wie keine andere Speise sonst, Leib und Seele gleichermassen. Ihr könnt mir also glauben, Maria hatte alle Hände voll zu tun, und sie war wirklich todmüde, wenn sie am Ende des Tages in ihr weiches Bett sank. Dennoch, diese Müdigkeit war süss und befriedigend, denn sie rührte daher, dass das Mädchen seine Arbeit aus Liebe und Fürsorge für andere tat.
Trotzdem, manchmal überkam sie immer drängender das Gefühl, sich an irgend etwas erinnern zu müssen, so wie damals, beim Säubern der Kinder. Da war dieser Liedfetzen, er wollte ihr nicht aus dem Kopf gehen. Manchmal ertappte sie sich dabei, wie sie, ohne sich dessen bewusst zu sein, immer wieder Dasselbe vor sich hinsang. Manchmal traf sie ein nachdenklich forschender Blick Frau Holles. "Einen Fünfer für ihre Gedanken", dachte Maria dann manchmal. Auch, wenn sie, wie jeden Tag, der Alten beim Reinigen der Kinder half, wenn sie die kleinen Körper mit der Lotion salbte, glaubte sie immer wieder, deren Duft von irgendwoher zu kennen. Immer dringlicher wurde das Gefühl: jetzt gleich, nur ein wenig fehlte noch, dann müsste ihr das Geheimnis offenbar werden! Sie musste Frau Holle fragen, vielleicht wusste sie, was das zu bedeuten hatte. Doch diese, darauf angesprochen, war ihr auch keine Hilfe. Sie hüllte sich in geheimnisvolles Schweigen und sagte höchstens: "Diese Aufgabe musst du alleine lösen, " oder "diesen Weg musst du selbst finden." "Sehr aufschlussreich, danke," pflegte Maria dann spitz zu erwidern. Das brachte sie auch nicht weiter.
Wunder sind nicht die ausnahme von der regel, sondern die natürliche, wahre ordnung der dinge (Bashar).